„Hier.“

Die glänzende Verpackung eines Schokoriegels kommt in ihr Blickfeld. Beiger Schriftzug auf türkisem Hintergrund. Die kleinen Sterne in Silber und Gold darauf. Genauso wie er immer in ihrer Erinnerung an den Kassen der Tankstellen im Regal gelegen war. Im Dunkeln greift sie danach. Das Papier knistert herrlich unter ihren Fingern.

„Ich glaub’s nicht, dass wir davon ne ganze Schachtel gefunden haben“, sagt sie lachend und blickt zu dem Mann, der neben ihr herläuft. Sie kann im spärlichen Mondlicht nur seine Silhouette vor der trostlosten Landschaft erkennen. Er hat den schweren Rucksack auf dem Rücken, in dem all ihre gefundenen Vorräte verstaut sind.

„Wer soll die denn sonst hier draußen finden?“, antwortet er. Sie kann das Grinsen auf seinen Lippen hören, als er spricht. Die Verpackung raschelt. Sie reist sie an einer der Ecken auf. Die Karamellglasur auf der Schokolade, die Haselnussstückchen… alles wie in ihrer Erinnerung. Langsam nimmt sie einen Bissen davon. Hm… Der Zucker-Himmel in dieser beschissenen Hölle.

„Hungrige Waschbären?“, fragt sie kauend und grinst.

„Wie bitte?“, er lacht laut auf. „Ich versteh dich nicht, du schmatzt so laut!“

Mit der schokoriegelfreien Hand boxt sie ihm grinsend auf den Oberarm. Er will zurückschlagen, doch sie weicht geschickt aus. Lachend entfernt sie sich auf der rissigen Straße einige Meter von ihm. Ihr Blick schweift zum Himmel, auf die Sterne. Sie beißt noch einmal von der Süßigkeit und wartet, bis Nicholas sie wieder eingeholt hat. Es ist schön hier draußen, mit ihm. Entspannend. In der Wüste ist es immer still. Ruhig. Bis auf vereinzelte Zwischenfälle. Es gibt genug Verpflegung. Und die Gesellschaft ist mehr als passabel. Sie blickt auf ihre Füße. Kleine Steinchen knirschen bei jedem Schritt unter ihren durchgelaufenen Sohlen. Sie lassen die alte Werkstatt hinter sich. Vor Ihnen taucht in der Finsternis das Motel auf, das ihr Ziel ist.

„Glaubst du eigentlich an Schicksal?“, fragt sie, nachdem sie den letzten Bissen ihres Schokoriegels hinuntergeschluckt hat.

„Wie kommst du jetzt darauf“, antwortet er verwundert. „Hattest du zu viel Zucker?“

„Naja…“ Sie zögert einige Sekunden. „Weißt du, wenn diese Scheiße hier nicht über die Welt gekommen wäre, dann hätten wir…“

Doch sie verstummt. Sie sind am Zaun angekommen. Bei ihrem Aufbruch haben sie das Tor verschlossen. Mit der dicken Kette und dem fetten Vorhängeschloss, dessen Schlüssel in Ihrer Hosentasche verstaut ist. Das würde selbst einem Bolzenschneider Schwierigkeiten bereiten. Sie greift an das Schloss, das noch immer unberührt an Ort und Stelle hängt.

Daneben, der Zaun. Vorhin war er noch ein solider Schutz gewesen. Hat sie immer vor den Gefahren von „Draußen“ beschützt. Jetzt war er in Fetzen gerissen. Der Draht verbogen, als hätte es dem Angreifer keinerlei Kraftaufwand gekostet. Wie lose Schnüre sind die Maschen auseinandergerissen. Ein riesiges Loch, durch das wer weiß was hindurchgekrochen ist, klafft vor ihnen. Der scheiß Zaun hat sie Tage an Arbeit gekostet. Sogar die Dosen sind heruntergerissen. Die haben immer rechtzeitig angekündigt, wenn eines der Viecher hier vorbeigekommen ist. Wie viele Ravioli-Dosen Ollie dafür vern…

„Ollie“, stößt sie zusammen mit einem erschrockenen Atemzug aus.

Sie duckt sich unter den Resten des Zaunes hindurch und sprintet, ohne darüber nachzudenken, über die Wiese, auf das Haus zu.

„Alice!“, ruft Nicholas, so leise es ihm möglich ist. „Warte!“

Doch sie läuft, so schnell sie ihre Beine tragen. Nach rechts, über den kleinen Parkplatz und durch die Lücke in den beiden Bussen hindurch. Gerade so, dass sie und Nicholas sich zwischen der Motorhaube des einen und der Heckstoßstange des anderen hindurchdrücken können. Sie sprintet auf den Durchgang zu, der in den weitläufigen Innenhof führt. Aber ohne darauf zu achten, was sich dort abspielt, schlittert sie um die Kurve und den schmalen, gepflasterten Weg hinunter. Entlang an all den heruntergekommen, versifften Zimmern.

Zimmer 105… Ihr Herz schlägt laut und schnell.

106… Angst breitet sich in ihr aus, dreht ihr beinahe den Magen um.

107… Ihre Schritte verlangsamen sich. Die Tür zu seinem Zimmer steht offen. Blanke Panik schnürt ihr die Kehle zu. Sie kann sich kaum die restlichen Meter auf die Tür zubewegen.

„O-Ollie?“, fragt sie, auf Höhe des Fensters zu Zimmer 108.

Sie legt die Hand auf den Rahmen der Tür vor sich und lauscht. Stille. Nur Nicholas Schritte hinter ihr, die sich langsam auf sie zu bewegen. Ein Rascheln im Raum. Ein Kratzen. Sie hört angestrengt hin. Vielleicht schläft er? Dann hört sie ein Grunzen. Ein Schmatzen. Sie wartet auf das laute Schnarchen, einen tiefen Atemzug.

Sie will um die Ecke gehen, in das Zimmer. Doch Nicholas hält sie auf. Er hält sich den Zeigefinger an die Lippen und deutet ihr an, zurückzubleiben. Seine Hand liegt an dem langen Messer, dass in einer ledernen Scheide an seinem Gürtel steckt.

„Was tust du?!“, flüstert sie entrüstet und will ihn aufhalten. Er zückt das Messer und hält es vor sich Wütend weißt er sie mit seinem Blick an, hinter ihm zu bleiben. In seinem Schutz.

Er geht in das dunkle Zimmer. Seine dunkle Gestalt wird eins mit den Schatten. Sie steht wie versteinert am Türrahmen, kann sich keinen Millimeter bewegen. Aufmerksam hört sie auf seine Schritte. Der Dreck auf den Fliesen knirscht leise unter seinen Sohlen. Das Grunzen wird abrupt lauter. Es schwillt zu einem gefährlichen Knurren an. Schleifen auf dem Boden. Bewegung. Sie schließt die Augen. Dann ein schmerzerfülltes Heulen. Ein Gurgeln. Es folgt das laute, dumpfe Geräusch eines Körpers, der leblos zu Boden fällt.

„N-Nicholas?“, fragt sie vorsichtig in den Raum.

„Komm nicht rein“, antwortet er tonlos.

„Ist er…?“ Sie kann den Satz nicht beenden. Trotz der Warnung macht sie einen Schritt nach vorne. Noch einen. Sie klammert sich am Türrahmen fest. Die Augen hat sie immer noch fest zusammengepresst. Als sie vor dem Raum steht, schlägt ihr der schwere Geruch von Blut in der Luft entgegen. Nach frischem Fleisch und… Tod.

Langsam öffnet sie die Augen. Das erste, das sie sieht, ist Nicholas. Er steht mit dem Rücken zu ihr gedreht. Noch immer hat er den Rucksack mit den Vorräten geschultert. Zu seinen Füßen liegt der erste Körper. Zerfetzte Jeans. Blutige, schuhlose Füße. Nicht Ollie – ihm fehlt ein Bein. Als ihr Blick über den Fliesenboden schweift und sie gerade in der Finsternis den zweiten Körper erkennen kann, dreht sich Nic plötzlich um. Sogar in der Dunkelheit kann sie seinen erschrockenen Blick sehen.

„Pass auf!“, brüllt er und stürzt auf sie zu. Plötzlich hört sie es auch. Hinter ihr. Schlurfende Schritte. Tiefes Grummeln. Dann packen sie steife Finger an der Schulter und zerren sie nach hinten. Sie schreit und fällt. Greift nach hinten. Blind schlägt sie mit dem Ellenbogen hinter sich und hofft, dass sie den Angreifer irgendwo trifft, wo es weh tut. Falls diese Monster noch etwas wie Schmerzen spüren können.

Nicholas ist endlich bei ihr. Er zwängt sich an ihr und dem Türrahmen vorbei und zerrt das Biest von ihr Weg. Sie spürt den festen Griff an ihrer Schulter, der sich ruckartig löst. Das Brennen an ihrem Oberarm ignoriert sie. Sie wirbelt herum. Ihr Verbündeter hat den Arm um den Hals des hässlichen Monsters gelegt. Irgendwann einmal muss sie eine Frau gewesen sein. Doch von den langen Haaren sind nur noch einzelne Strähnen übrig. Die Haut fahl und von unzähligen Wunden übersäht. Die knochige Gestalt in die Überreste eines schmutzigen Sommerkleides gehüllt.

„Dein Messer…!“, zischt Nic, der sichtlich mit der toten Gestalt zu kämpfen hat.

Sie starrt weiterhin unbewegt auf das zerfetzte Gesicht. Die vergilbten Augäpfel fixieren sie aus den dunklen Höhlen heraus. Die Reste der letzten, blutigen Mahlzeit sind noch deutlich zu sehen. Der Zombie streckt die Arme nach ihr aus. Will sie greifen und das Fleisch in Fetzen von ihren Knochen reisen – wie bei Ollie…

Endlich erwacht sie aus ihrer Starre und kann das Messer, dass sie an ihrem Gürtel hat, zücken. Entschlossen stellt sie sich nahe an Nic und die untote Frau heran. Sie hebt die Hand und setzt das Messer an der Schläfe des Monsters an. Doch bevor sie das Leid vor sich beenden kann, wird sie von einem Gurgelnden Geräusch neben sich abgelenkt. Sie dreht den Kopf erschrocken nach links. Noch eines der Biester. Zwei. Drei.

„Fuck“, stößt Nicholas aus. „LAUF!“

Er stößt den Körper von sich. Der Zombie taumelt und fällt. Er landet vor den Anderen beiden, die auf sie zu schlurfen, auf den Fliesen. Es ist ein Krachen zu hören. Blut auf dem Boden. Doch die Untote rappelt sich wieder auf.

„Renn, verdammt!“, wiederholt er und packt sie am Oberarm, um sie mit sich zu reisen. Er rennt in die entgegengesetzte Richtung, um das Gebäude herum und sie hinterher. Im Dunkeln stolpert sie einige Male und fällt beinahe hin. Der Rasen ist uneben. Unendlich weit in der Ferne sieht sie das Loch im Zaun, durch das sie vorhin hineingekommen sind. Wie das Ende eines Tunnels, das unerreichbar ist.

Plötzlich verliert sie den Halt. Sie fällt. Die Luft wird aus ihren Lungen gepresst, als sie mit dem Brustkorb auf dem harten Erdboden aufkommt. Ihr Kopf kommt dumpf auf dem Boden auf und wird wieder zurückgeschleudert. Sie will sich aufraffen und stemmt die Hände in die Erde. Doch für einen Moment hat sie keine Kraft. Sie versucht krampfhaft Luft in ihre Lungen zu bekommen, zu atmen. Dann packen sie eiskalte Finger an ihren Füßen. Drücken sie mit Gewalt auf den Boden. Ein Körper fällt auf sie und hält sie unten.

Sie versucht zu strampeln und sich zu befreien. Das Gewicht auf ihr ist so schwer. Sie kann nicht fliehen. Sich nicht befreien. Nicht davonkommen. Das Knurren ist so laut an ihrem Ohr. Der faulige Geruch brennt in ihrer Nase. Die Schwere auf ihr nimmt ihr den Platz zum Atmen. Die Kälte an ihren Beinen wird von Hitze und Schmerz erlöst.

„Alice!“, hört sie Nicholas Stimme, so weit entfernt. „Lauf“, krächzt sie, mit letzter Kraft. „Lauf um dein Leben!“