Die beiden jungen Frauen kommen den sandigen Weg vom Strand nach oben gelaufen. Hinter ihnen verblasst das Rauschen des Meeres langsam und macht raschelnden Blättern und Mülltüten Platz. Motorengeräusche mischen sich darunter, von der nahe gelegenen Straße. Doch es wäre zu auffällig gewesen, das Gebäude von dieser Seite aus zu betreten. Mattie hatte es zumindest so erklärt. Vielleicht war es auch nur einer seiner bescheuerten Streiche und sie sind einen unnötigen Umweg gelaufen. Aber immerhin haben sie so die schöne, kleine Bucht entdeckt, von der aus sie gerade die Wellen beobachtet haben.

Sie gehen auf die Rakete zu, die zur Linken des Weges steht. Sie sieht genauso aus, wie sie es in ihrer Erinnerung vor sich sieht. Als sie ein Kind war, wirkte sie riesig – beinahe so, als könnte sie wirklich in den Weltraum fliegen. Nur das kleine Logo auf der Vorderseite ist nicht mehr beleuchtet. Das Schild ist von Dreck verkrustet, grünlich und vergilbt, als sie es mit ihrer Taschenlampe anstrahlt. Das Metall der Rakete rostig, verkratzt und mit dämlichen Schriftzügen beschmiert.

Das Diner zur Rechten ist in keinem besseren Zustand. Die großen Fenster sind notdürftig mit Brettern vernagelt, die Türen großen Platten versiegelt. Überall liegen Mülltüten herum, Dreck auf den Gehwegen und Graffitis an den Wänden. Es sieht schrecklich traurig und einsam aus, wie es so vor ihnen liegt.

„Hinten muss eines der Toilettenfenster offen sein“, beschreibt Carrie, was ihr Kumpel ihnen beiden erklärt hat. Das Diner ist ein beliebter Ausflugsort bei den Jugendlichen, gerade wenn es auf Halloween zu geht. Weil angeblich irgendjemand mal einen Geist dort gesehen hat…

Sie gehen auf die Hinterseite des Gebäudes, wo der vorherige Besitzer anscheinend seinen gesamten Müll hat liegen lassen. Sie leuchtet mit der Taschenlampe die Wand ab, bis zu den beiden kleinen Fenstern, die knapp unterhalb der Regenrinne sind. Eines davon steht sichtbar einen Spalt offen. Darunter ein hoher Müllcontainer.

„Du willst nicht da rein klettern, oder?“, fragt ihre Freundin und rümpft angewidert die Nase.

„Wenn du hier warten willst…“, antwortet sie schulterzuckend.

„Hier draußen?“, ruft Carrie empört. „Alleine? Und was, wenn jemand hier vorbeikommt?“

„Dann solltest du laut nach Hilfe schreien“, erwidert sie, während sie schon dabei ist, auf den Container zu klettern.

„Ich hasse dich“, hört sie ihre Freundin hinter sich murmeln. „Manchmal zumindest…“

Sie stößt das kleine Fenster auf und dahinter empfangen sie nur schwarze Dunkelheit und ein unverkennbarer, modriger Geruch. Es stinkt bis hier draußen nach den Hinterlassenschaften aller nächtlichen Besucher der letzten Jahre, die es besonders lustig fanden, die Toiletten eines verlassenen Diners zu benutzen.

„Halt dir am besten die Nase zu“, warnt sie Carrie, bevor sie sich mit den Füßen zuerst durch den schmalen Eingang quetscht. Sie will es auf jeden Fall vermeiden, mit den Händen voran in irgendetwas reinzufallen.

Das Wasser auf den schwarzen Fliesen spritzt an ihrer Hose hoch, als sie vom Deckel der Toilette herunter hüpft. Wie damals, als sie als Kind mit Absicht in große Regenpfützen gesprungen war. Es ist tatsächlich nur Wasser. Ein Rohr des Waschbeckens hat ein Leck, aus dem es unablässig auf den Boden tropft.

Sie nimmt die Taschenlampe aus ihrer Jackentasche und lässt sie mit einem lauten Klicken erleuchten. Die Wände hier drin sind bunt bemalt. Schwarz mit grünen, lila und orangenen Wolken. Hunderte kleiner weißer Sterne darauf. Planeten und Sonnensysteme, wo man nur hinsieht. Nur der Spiegel ist voll von Lebensweisheiten, die irgendwo aus dem Internet kopiert wurden. Über Herzchen mit Initialen darin bis hin zu anstößigen Nachrichten an irgendwelche Unbekannten.

Als Carrie ihr endlich gefolgt ist und sie ihr vom Fenster heruntergeholfen hat, verlassen die stinkenden Toiletten, um sich hinter dem Tresen wieder zu finden. Ein Ausblick, den man als Besucher normalerweise nicht in einem Diner hat.

Durch die vernagelten Fenster kommt kaum Licht herein. Noch dazu ist es draußen bereits seit Stunden dunkel. Nur ein ab und an vorbeifahrendes Auto bringt etwas Licht in den finsteren Raum. Sie leuchtet mit ihrer Taschenlampe den Tresen ab, auf dem sich Müll und zurückgelassenes Geschirr stapelt. Die Kasse ist von Spinnenweben eingenommen und in den Regalen tummeln sich verschimmelte Flaschen und Becher.

Sie schwenkt den Lichtkegel auf die pechschwarzen Tische. Auf manchen steht noch die kleine Metall-Rakete, die früher die Speisekarte gehalten hat. Die grünen Lederbänke sind von Staub und Dreck bedeckt. Nur wo sich in letzter Zeit jemand gesetzt hat, kann man an Handabdrücken und heller Farbe erkennen.

„Sind sie ein echter Astronaut?“ Sie erinnert sich, wie sie als kleines Mädchen auf einer der Bänke saß. Ihre Füße baumelten in der Luft, weil sie zu klein war, als dass sie bis zum Boden gekommen wäre. Die Bedienung war gerade am Tisch aufgetaucht, in dem typischen Astronauten-Aufzug, den jeder Angestellte dort getragen hatte.

„Estelle, Schätzchen, der Mann arbeitet nur hier“, hatte ihre Mutter anstatt des jungen Mannes geantwortet und ihr auf die kleine Hand getätschelt, als hätte sie wieder einmal nur Blödsinn geredet.

„Möchtest du denn auch einmal Astronautin werden, wenn du groß bist?“, war seine Gegenfrage. Ohne auf ihre Mutter einzugehen, war er damals in die Hocke gegangen, auf ihre Augenhöhe.

„Ich beobachte die Sterne lieber von hier unten“, antwortete sie kleinlaut.

„Hm…“, machte der Mann. „Dann verpasst du aber die aufregenden Weiten des Weltraumes.“

Sie hatte einen Moment darüber nachgedacht. Der junge Mann lächelte sie freundlich an. In seinen Augen war damals etwas zu sehen gewesen, dass sie auf einmal so fröhlich hatte werden lassen.

„Meine Mom sagt, dass es auf der Welt auch genug zu entdecken gibt.“ Brav waren die Worte nach einem Seitenblick auf sie aus ihrem Mund gekommen. Ihre Mutter war sicher stolz auf sie gewesen.

„Da hat sie durchaus recht.“ Auch er sah kurz zu ihr hinüber. „Aber Fantasie und Träume sollte man dabei nicht vergessen.“

Er lächelte noch ein letztes Mal, bevor er sich aufrichtete und einen schmalen Block inklusive Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Raumanzuges nahm.

„Was möchtet ihr essen?“

Die Erinnerung verblasst so schnell, wie sie gekommen ist. Eine Erinnerung, die sie schon seit langer Zeit nicht mehr so klar wie gerade eben gesehen hat. Aber wenn sie einen Moment in ihrem Leben benennen soll, der sie in welcher Weise auch immer beeinflusst hat, dann ist es dieser. Auch wenn sie als Kind die wahre Bedeutung seiner Worte nur hat erahnen können.

Sie geht hinter dem Tresen hervor, ohne ein Wort darüber zu ihrer Freundin zu verlieren. Der Lichtkegel ihrer Lampe streift weitere Tische und Bänke, die zugemüllt und von irgendwelchen Flüssigkeiten versifft sind. Dicke Staubschichten sind überall darauf zu sehen. Beinahe unbewusst streckt sie den Finger aus und malt eine Linie auf ein leeres Regalbrett an der Wand. In dem ganzen Staub könnte man wunderschöne Bilder zeichnen…

Plötzlich spürt sie einen kalten Luftzug. Gänsehaut bedeckt ihre nackten Unterarme. Ihr Nacken kribbelt. Erschrocken dreht sie sich in die Richtung, aus der das Gefühl gekommen ist. Auch Carrie blickt dort hin, die Augen weit aufgerissen, angsterfüllt, als hätte sie etwas in der Dunkelheit gesehen.

Ihre Taschenlampe, mit der sie versucht zu erkennen, was dort am anderen Ende des Raumes vor sich geht, flackert. Das kann nicht sein! Sie hat die Batterien gewechselt, bevor sie losgegangen sind!

„Irgendwas stimmt hier nicht“, flüstert Carrie und schlingt die Arme fest um den Körper.

„Ja…“ knurrt eine Stimme, verzerrt und unheimlich. „Ihr solltet nicht hier sein.“

Erschrocken hält sie die Taschenlampe in die Richtung, aus der die fremde Stimme gekommen ist. Doch sie leuchtet nicht länger.

„Wer ist da?“, fragt sie in die Dunkelheit hinein.

„Mattie, du Arsch. Das ist überhaupt nicht lustig“, brüllt Carrie.

Doch ihr Freund lacht nicht plötzlich und löst den ganzen Spaß auf. Eine kleine Lampe in Form eines Planeten flackert in ihrer Nähe. Das orangene Licht ist gerade hell genug, dass sie die dunklen Fliesen auf dem Boden und einige der schwarzen Tische erkennen können. Die grünen Wände reflektieren das Licht kaum. Irgendwo in dieser Dunkelheit kann sie einen Schatten erkennen. Er sitzt auf einer der Bänke.

„Mattie?“, fragt sie vorsichtig. Doch er ist es nicht, das spürt sie.

Langsam macht sie einen Schritt auf ihn zu. Er scheint sie nicht zu bemerken, also tut sie noch einen und noch einen. Bis sie auf eine Glasscherbe tritt und sie knirschend zwischen ihrer Sohle und den Fliesen in winzige Splitter zerbricht. Der Schatten hebt ruckartig den Kopf. Dann steht er langsam von der Bank auf. Sie erkennt den Onesuite, den die Mitarbeiter hier immer getragen haben. Nur, dass er die Ärmel locker um seine Hüfte zusammengebunden hat.

„Hast du keine Angst?“, knurrt er wieder. Es ist, als würde sie ihn doppelt hören. Als würden seine Worte von den Wänden wider Hallen und in ihrem Kopf klingen.

„Nein“, flüstert sie. Es ist die Wahrheit.

„Estelle…“ murmelt er. Sie ist nicht erschrocken darüber, dass er ihren Namen kennt. Sie hört in ihrem Kopf, wie ihre Mutter ihn hier drin so oft gesagt hat.

„Estelle, fass das nicht an! Estelle! Lass die Statuen in Ruhe! Estelle, starr nicht so! Estelle, Schätzchen, der Mann arbeitet nur hier…“

„Woher…?“, hört sie Carrie hinter sich fragen, doch sie verstummt augenblicklich, als der Mann vor ihnen in ihre Richtung blickt.

„Du bist der Mann… der Mann, der hier gestorben ist“, sagt sie leise. Er schnaubt nur laut. Plötzlich spürt sie seine Traurigkeit. Sie fühlt, wie er niedergeschlagen zu Boden blickt, sie fühlt sein Leiden. Es ist beinahe so, als wäre es ihr selbst passiert. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, krempelt sie ihren linken Ärmel weiter nach oben. Sie hält ihren Unterarm nach vorne in seine Richtung. Als sein Blick sich darauf senkt, sieht sie ebenfalls hin. Schwarze, kaum erkennbare Linien. Ein Kreis mit zwei schattenhaften Ringen darum herum.

„Der hier steht für meine Fantasie“, erklärt sie dem Toten vor sich und zeigt auf den ersten Ring des Planeten. „Und der hier für meine Träume.“

Langsam, beinahe schüchtern, streckt er seine Hand nach ihrem Arm aus. Für einen kurzen Augenblick hat sie das Bedürfnis, vor ihm zurückzuweichen. Aber nur kurz. Bis sie seine blasse, bläuliche Haut im schwachen Licht der Lampe sieht. Die Adern sind dunkel unter seiner Haut sichtbar. Kleine Narben und Blutflecken bedecken seine Finger.

Zuerst berührt er sie nur vorsichtig. Seine Fingerspitze streift die Haut, in der das Tattoo gestochen ist. Er ist eiskalt und sie zuckt vor der toten Kälte zurück. Er unterbricht die Verbindung. Nur um gleich darauf seine Hand auf ihren Arm zu legen und sie festzuhalten. Er umschließt ihren Arm. Drückt zu. Hält sie fest. Carrie hinter ihr stößt einen spitzen Schrei aus und umgreift ihre Hüfte von hinten. Doch sie befreit sich von ihr.

Das Gefühl der Wärme, das trotz seiner eisigen Haut durch sie strömt, ist unbegreiflich und wunderschön. Sie spürt ihn. Sie kann seine Gedanken hören und seine Ängste fühlen. Ihr Herzschlag ist laut und kräftig, schlägt für zwei. Und das Lächeln in seinem toten Gesicht ist so ehrlich und freundlich – wie sie kein Mensch zuvor angesehen hat. Und als sich seine eiskalte Hand von ihrem Arm entfernt, bleibt ein brennender Handabdruck auf ihrer Haut zurück. Sie spürt seine kalten Finger, als würden sie sie immer noch festhalten. Sie spürt ihn, wie er in sie hineinfährt und ihr Herz mit seiner Kälte umschließt. Sie spürt, dass sie nicht mehr länger allein in ihrem Körper ist. Denn er ist jetzt bei ihr.