„Beeil dich, ich vermisse dich!“, flüstert Dan, dann legt er auf.

Er packt sein Telefon, dass ihm beim wankelmütigen Netz hier draußen wahrscheinlich wenig nutzen wird und steckt es in die Seitentasche seines Rucksacks. Ein letztes Mal überprüft er, ob sein Wagen, den er in der Nähe der Straße parkt, abgeschlossen ist. Dann schultert er den Rucksack und macht sich auf den Weg. Den steilen Wanderpfad, am alten Sägewerk vorbei und den Mount Chiliad hinauf.

Das modrige Holzschild, dass er kurz darauf passiert, kündigt den Beginn des Trails an. An der Spitze des Berges eine Nacht zu verbringen, war schon lange ein Abenteuer, dass er und seine Freunde erleben wollten. Und genau heute konnte er sich nicht frei nehmen. Die anderen sind bereits am Nachmittag losgegangen, um es rechtzeitig vor der Dunkelheit nach oben zu schaffen. Aber jetzt, wo er in Richtung der untergehenden Sonne schaut, ist er sich sicher, dass er das nicht schaffen wird.

Vor ihm schlängelt sich der „Mount Chiliad Tourist Trail“ zwischen den felsigen Klüften des Berges empor. Zwischen meterhohen Tannen hindurch, die sanft im Wind hin und her schaukeln. Die Silhouette der Mondsichel ist, trotz des grellen Sonnenuntergangs in seinem Rücken, bereits zu sehen. Der Himmel über ihm färbt sich in Lila-, Orange- und Rot-Tönen. Der Berg, den er erklimmt, wird davon angestrahlt und leuchtet hell und freundlich.

Je später der Abend und je steiler der Weg wird, desto öfter kommt ihm der Gedanke in den Sinn, warum er nicht einfach hinterhergefahren ist. Trotz der Stirnlampe, die er bereits jetzt, in der Dämmerung, angeschaltet hat, ist der Weg schwierig auszumachen. Er stolpert über Steine, übersieht größere Löcher im Pfad. Einmal wäre er beinahe falsch abgebogen, weil der richtige Weg am Tage ganz anders ausgehen hat, als er es jetzt tut. Das wenige, übrige Sonnenlicht kommt einer flackernden Kerze im Wind gleich.

Er hat nicht auf die Uhr gesehen, aber lange kann er noch nicht unterwegs sein, als er das kleine Hinterwälder-Dorf erreicht. Ihm wurden merkwürdige Geschichten über die Siedlung auf dem Berg erzählt – von Kannibalen und satanistischen Priestern, die dort ihre Opferstätte errichtet haben.

Ohne noch mehr Gedanken an diesen „Humbug“ zu verschwenden, folgt er weiter dem Pfad nach oben. Der Kies knirscht unter den dicken Sohlen seiner Wanderschuhe. Er holt die kleine, gefaltete Karte heraus, die er bei sich trägt, um einen Blick darauf zu werfen. Doch er blickt erschrocken von dem zerknitterten Papier auf, als er plötzlich einen Schrei hört. Eine Frau. Der Laut wird vom Wind zu ihm getragen. Er konnte nicht ausmachen, von wo er gekommen war.

Aufmerksam hört er in die Stille, bevor er die Karte wegpackt und dem Weg weiter folgt. Jetzt ist er vorsichtiger. Jedes Geräusch, jedes Knacken eines Astes und jeder Windhauch in den Blättern lässt ihn aufschrecken.

Ein merkwürdiges Gefühl, eine Art aufgeregtes Kribbeln, macht sich in seinem Magen breit. Er fühlt sich gehetzt. Beobachtet. Ständig muss er dem Drang widerstehen, sich umzudrehen, weil er das Gefühl hat, jemand verfolgt ihn. Er geht schneller den Weg hinauf, trotz der schlechten Lichtverhältnisse.

Nach endlosen Minuten, in denen er den Berg beinahe hinaufgerannt ist, muss er eine Pause einlegen. Seine Lungen brennen. Er ringt verzweifelt nach Atem. Ein Blick nach hinten, um sich zu vergewissern, dass niemand außer ihm da ist. Aus einer der Wasserflaschen aus seinem Rucksack nimmt er einen kräftigen Schluck. Dann schüttet er sich etwas davon in das verschwitzte Gesicht, bevor er sie zurück stopft und weiterwill.

Doch er stockt. Vor ihm auf dem Weg liegt etwas, das seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er kann erst nicht erkennen, worum es sich handelt. Ein Stein, der merkwürdig glänzt? Er geht einige Schritte darauf zu und bemerkt dann die Pfütze, die daneben ist. Dabei hat es heute doch gar nicht geregnet?

Vor dem Gegenstand geht er in die Hocke und sieht jetzt, im Licht seiner Stirnlampe, dass es sich um einen Schuh handelt. Ein Wanderstiefel, ähnlich dem, den er trägt. Und das Wasser, das sich daneben in einer kleinen Pfütze angestaut hat, ist merkwürdig dunkel. Ohne darüber nachzudenken, steckt er einen seiner Finger hinein. Sofort, als die warme Flüssigkeit seinen Finger berührt, schreckt er zurück.

„Was zur…“, erschrocken wischt er das Blut, denn das ist die rote Nässe auf seiner Haut offensichtlich, an seiner Hose ab. Er bringt zwei Schritte Abstand zwischen sich und den blutigen Schuh und schaut sich in der aufkommenden Dunkelheit um. Aber er kann niemanden erkennen, der vielleicht seinen Schuh verloren hat.

„Hallo?“, ruft er in die nächtliche Stille. „Ist da jemand?“

Aber außer einem kalten Windhauch, der seine Wange streift, kommt keine Antwort. Er geht einen kleinen Radius um die Fundstelle herum ab und sucht nach weiteren Hinweisen. Mit der Lampe beleuchtet er das Gestrüpp am Wegesrand, das aufgeregt im Wind raschelt. Sogar über die steile Kante wirft er einen Blick, ohne Ergebnis.

Nach kurzem Zögern setzt er seinen Weg fort. Das ungute Gefühl, das er vorher gehabt hat, ist nach seinem Fund allerdings nur noch schlimmer geworden. Immer wieder wirft er einen gehetzten Blick über die Schulter oder schaut angespannt den Weg hinauf. Er versucht die Schatten in der Dunkelheit auszumachen, die sein Verstand ihm vorgaukelt.

Er kommt in die Nähe einer kleinen Baumgruppe. Ein einladender Platz für eine kurze Pause. Aber daran ist nicht zu denken. Nicht, wenn er das ständige Gefühl hat, verfolgt zu werden. Trotzdem geht er darauf zu, weil etwas seinen Blick auf sich gezogen hat. Die Schnalle eines Rucksacks, der einsam an einem Felsen lehnt. Im Licht der Stirnlampe hat er das schwache Glitzern fast übersehen. Ihm kommt der rot-graue Wanderrucksack merkwürdig bekannt vor, aber niemand ist in der Nähe zu sehen.

„Ist jemand hier?“, fragt er laut. Er wartet einige, endlose Augenblicke, in denen sein Herzschlag unendlich laut in seiner Brust trommelt. Keine Antwort.

Er öffnet die Lasche und spät vorsichtig in den Rucksack hinein. Eine Wasserflasche liegt oben darauf, darunter eine Packung Müsliriegel. Daneben gelbe Socken, in eine Cappie gestopft. Alles, was sein Kumpel Tom in einen Rucksack packen würde, wenn sie auf eine Wanderung gehen.

„Tom?!“, ruft er verzweifelt. „Komm schon man, das ist nicht lustig!“

Er schließt den Rucksack und gerade, als er wieder aufstehen will, tropft etwas auf den dunklen Stoff. Er dreht wie automatisch den Kopf und sieht den dunklen Tropfen, der langsam an der Seite herunter rinnt. Er runzelt die Stirn, nachdenklich. Er verfolgt den Weg, den der Wassertropfen zurückgelegt hat, mit dem Blick. Im nächsten Moment bleibt ihm beinahe der Atem weg. Sein Herzschlag stockt. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und den Blick nach oben gerichtet. Über ihm, in merkwürdig verdrehter Position hängt etwas. Jemand. Tom. Seine Arme zwischen die Äste des Baumes geklemmt, der Bauch blutig und aufgerissen. Die Gedärme hängen herunter, wie Girlanden.

Er spürt ein Brennen in seiner Kehle, als sich ihm beinahe der Magen umdreht. Der Anblick seines toten Freundes fegt alle Gedanken aus seinem Kopf. Wie angewurzelt steht er da und starrt nach oben. Die Welt um ihn herum steht. Unfähig zu glauben, dass es real ist, was passiert, stolpert er zurück. Der nächste Tropfen Blut, der auf den Stoff des Rucksacks tropft, ist laut wie ein Glockenschlag. Er zuckt zusammen und muss den Blick abwenden von dem Massaker.

Panisch dreht er sich um sich selbst und sucht die Umgebung ab. Vielleicht sind die anderen in der Nähe? Vielleicht war das alles hier nur ein dummer Scherz? Doch die erdrückende Schwere des Todes, die um ihn herum in der Luft schwebt, der eiserne Geruch in der Luft, sind Zeugen des Blutbads.

„Dan?“ Er schreit so laut in die Nacht, dass er einige Sekunden sein eigenes Echo hören kann. „Lilly? Andrea?!“

Er meidet den Blick in Richtung der Baumgruppe und schaut den Weg hinauf, der zwischen den Felsen hindurch bis in den nachtblauen Himmel zu reichen scheint. Da streift er die Silhouette einer Person, die den Pfad entlang rennt. Ihr weites weißes Kleid wirbelt im Wind um sie herum und leuchtet in der Nacht.

„Hallo?“, ruft er ihr hinterher und sprintet ihr einige Schritte nach. „Bitte! Warten Sie!“

Er rennt dem Schatten hinterher, der um die nächste Kurve verschwunden ist. Das Licht seiner Stirnlampe wackelt im Takt der Schritte. Die Steinchen unter seiner Sohle sind rutschig. Er stolpert um die Ecke. Dann hält er ruckartig an.

Vor ihm steht der Schatten, den er gerade gesehen hat. Eine Frau in einem langen, weißen Kleid. Ihr schwarzes Haar reicht ihr beinahe bis zu den Hüften. Der unerbittliche Wind wirbelt die dunklen Strähnen um ihre Schultern. Sie steht dem Rücken zu ihm, breitbeinig und die Arme drohend ausgebreitet.

„Ihr wart es!“, kreischt sie. „Ihr habt mich getötet!“

Er blickt an ihr vorbei, zu der Person, die ihr gegenübersteht. Und blickt in Dans angsterfülltes Gesicht. Mit dem Rücken zur Klippe steht er da. Die Panik ist in seinem Blick unverkennbar. Dan steht so nahe an der felsigen Kante, dass er jeden Moment hinunterstürzen könnte.

„N-Nein!“, stottert Dan mit brüchiger Stimme. „Das waren wir nicht! Adrian, sag es ihr!“

Als er seinen Namen erwähnt, wirbelt die Frau herum. Ihr fahles, abgemagertes Gesicht in seine Richtung gedreht, blickt sie ihn mit glühendem Blick an. Er kann die Verachtung, den Hass, den Tod darin sehen.

„Dan, geh von der Kante weg!“, ruft er ihm zu, ohne sie aus den Augen zu lassen.

„Er wird sterben“, flüstert sie. Ihre Stimme kriecht wie ein unangenehmes Kreischen in sein Ohr.

„Dan!“ Sein Blick flackert zwischen dem jungen Mann und der Verrückten hin und her. Er reagiert nicht auf sein Rufen. Die Frau dreht ihren Kopf mit einer schnellen Bewegung zu seinem Freund. Unter seinem linken Fuß bricht ein Stück des Felsens weg und er kommt gefährlich ins Wanken.

Langsam versucht er sich den beiden zu nähern. Unauffällig und leise. Zentimeter für Zentimeter. Er atmet flach. Tastet sich mit den Schuhspitzen nach vorne, ohne den Blick von ihr und Dan zu lösen. Plötzlich knackt ein Ast unter seinem Fuß. Sie reist den Kopf herum und funkelt ihn wütend an.

„Er wird sterben!“, kreischt sie mit Nachdruck. „Er muss für meinen Tod büßen!“

Bevor er etwas erwidern und die verrückte Frau von Dans und seiner Unschuld überzeugen kann, ergreift eine merkwürdige Schwere Besitz von ihm. Als würde ihn etwas an den Schultern herabziehen und zu Boden zwingen. Er will sich dagegen wehren, sie abschütteln, aber die Kraft ist einfach zu stark. Bevor es tiefschwarze Nacht um ihn herum wird, sieht er wie Dan ins Stolpern gerät. Er rutscht ab und rudert mit den Armen, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Aber Dan fällt. Und er kann nichts tun. Das Letzte, das er wahrnimmt, bevor er zu Boden fällt, ist der markerschütternde Schrei seines Freundes, der in den Tod stürzt.