Bei seinem typischen Abendspaziergang schlendert er seit, naja, irgendwie schon immer, denselben langweiligen Weg entlang. Er denkt nach, während die Stadt in den Abendstunden langsam ruhiger wird und der Himmel sich verdunkelt. Die lebendigen Straßen und die vielen Fußgänger werden zu vereinzelten Spaziergängern, wie er es ist, und Ungeduldigen, die von der Arbeit nach Hause kommen. Er beobachtet sie gerne, wie ein stiller Zuschauer.

Meist ist er nach mehr oder weniger 20 Minuten wieder zu Hause. Während der gesamten Zeit, die er dieses „Ritual“ nun durchführt, ist nie etwas Merkwürdiges oder Außergewöhnliches passiert. Immer der gleiche Weg, ohne Abweichungen. Aber heute ist etwas anders.

Er ist kurz vor einem italienischen Restaurant, als er plötzlich ein Klingeln hört. Ein schrilles, metallenes Läuten. Verwirrt sieht er sich um. Sein Blick fällt auf die kleinen, gelb beleuchteten Telefonzellen ganz in seiner Nähe. Das diese rostigen Dinger überhaupt noch an das Stromnetz angeschlossen sind?

Er geht darauf zu und zögert. Wer ruft um diese Uhrzeit an einer Telefonzelle an? Und warum? Schließlich greift er nach dem Metall-Hörer, der sich kalt und unangenehm an seinem Ohr anfühlt. Das Display zeigt nichts an. Das Gehäuse ist über und über mit alten, verblichenen und zerrissenen Aufklebern übersäht.

„Hallo?“, fragt er.

Stille. Nur ein Knacken der Leitung.

„Ist da wer?“, hakt er nach.

Es rauscht für eine Sekunde unerträglich laut und dann ist eine verzerrte, männliche Stimme zu hören: „Heute war dein letzter Spaziergang.“

„Und… Cindy?“, ruft er, laut genug, dass seine Sekretärin im Vorraum ihn hören kann. „Am besten haben Sie das morgen früh erledigt! Ich brauche die Unterlagen zum Meeting!“

Langsam lässt er sich nach hinten an die Lehne des breiten Bürostuhls sinken. Das Leder knarzt. Er sinkt ein Stück in den gepolsterten Stuhl ein und seufzt. Er greift nach dem noch dampfenden Kaffee, den sie ihm gerade gebracht hat und nippt daran. Durch die große Fensterfront in seinem Rücken scheint strahlendes Sonnenlicht herein und wärmt ihn.

Plötzlich klingelt das Telefon. Er zieht die Augenbrauen zusammen und blickt wütend in Richtung seiner offenen Bürotür.

„Cindy!“, brüllt er hinaus.

Als keine Antwort kommt, stellt er seine Tasse lauter als nötig auf dem Glastisch ab und greift wütend nach dem Hörer.

„Ja, bitte?“, meldet er sich, sichtlich genervt. Er blickt finster auf den Flur hinaus, als könnte er dadurch die junge Frau im Türrahmen erscheinen lassen, um ihr eine Standpauke zu halten.

Er wartet drei Sekunden, in denen sich niemand meldet. Ungeduldig trommelt er mit den Fingern auf die gläserne Schreibtischplatte.

„Ich hab‘ nicht den ganzen Tag Zeit“, setzt er seufzend nach. Es knackt kurz in der Leitung. Dann folgt ein kratziges Rauschen.

„Das ist auch nicht nötig“, murmelt eine weibliche Stimme. „Denn den heutigen Abend wirst du nicht mehr erleben.“

„Willkommen bei xxx, was kann ich für Sie tun?“ Es ist so sehr zu einer Routine geworden, sich so zu melden, dass sie selbst bei privaten Anrufen beinahe so rangegangen wäre. Sie steht an der Theke des Lieferservice, für den sie arbeitet und nimmt die Bestellung auf. Es riecht nach Frittierfett und billigen Burgern. Die Schürze, die sie trägt, ist klebrig und ausgeblichen. Die wenigen Tische im Innenbereich leer und staubig.

Nachdem sie aufgelegt hat, klingelt nicht einmal zwei Sekunden später wieder das Telefon. Diesmal wartet sie einen Augenblick, bevor sie ran geht, in dem sie genervt die Augen verdrehen und seufzen kann.

„Willkommen bei xxx, was kann ich für Sie tun?“, rattert sie ihren Text hinunter.

Doch am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Ein seltsames, monotones Rauschen ist zu hören. Sonst nichts.

„Wollen Sie was bestellen oder nich?“, brummt sie. Es bleibt totenstill.

„Jetzt hörn Sie mir mal zu“, sie wirft genervt den Stift neben dem abgenutzten Notizblock auf den Tresen. „Ich muss hier meine scheiß Arbeit erledign… Wenn Sie nix bestelln wolln, dann legn Sie auf und lassn Sie mich in Ruhe!“

„Sie hören mir zu“, ertönt eine raue Männerstimme plötzlich – blechern und kratzig. „Ich erledige ebenfalls meinen Job und der beinhaltet, dass ich Ihnen leider, oder, zu meinem Glück, mitteilen muss, dass sie bald sterben werden…“

„Eine Cola, bitte.“ Er wirft der freundlichen Bedienung über den Tresen hinweg ein Lächeln zu. Entspannt will er sich an den Holzbalken lehnen, der das Dach der Theke stützt. Der Sonnenuntergang ist wunderschön an diesem Ort. So passend zu der rustikalen Location. Er ist gerne hier und genießt die friedliche Stimmung. Manchmal hört er dem Lachen der Menschen um sich herum zu. Beobachtet sie und das Treiben der Stadt.

Die junge Frau stellt gerade seine Bestellung vor ihm ab, als das Mobiltelefon in seiner Hosentasche klingelt. Er wirft ihr einen entschuldigenden Blick zu und fischt es aus der Tasche seiner Jeans. Auf dem Display wird ein anonymer Anruf angezeigt.

„Hallo?“, meldet er sich. Er runzelt die Stirn und entfernt sich einige Meter von der Theke.

Neugierig, wer ihn anrufen könnte, gerade jetzt, wo er an diesem wunderbaren Ort Kraft tanken und seine Cola genießen wollte, wartet er am Rande des Platzes.

„Hallo?“, fragt er nach wenigen Augenblicken noch einmal nach.

„Haben Sie Spaß?“, fragt ihn die Stimme eines Mannes. Er klingt jung und irgendwie aufgeweckt.

„Wer will das wissen?“, entgegnet er. Was soll das für ein bescheuerter Scherz sein?

„Beobachten Sie gerne die rothaarige Kellnerin?“, fragt die Person am anderen Ende unbeirrt weiter. „Jeden Abend? Und bestellen eine Cola? Während Sie so tun, als würden Sie arbeiten?“

„Wer zur Hölle sind Sie?“

„Ihr Tod.“

Die einzige Lichtquelle in dem kleinen, muffigen Raum ist eine alte Schreibtischlampe. Sie erhellt gerade einmal die abgenutzte Tischplatte, auf der unzählige Zettel verstreut liegen und an deren einem Ende ein altmodisches Telefon steht. Die dunkelgrüne Wand, von der der Putz langsam abbröckelt. Der knarzende Holzstuhl, auf dem die Gestalt sitzt. Diese legt gerade behutsam den Hörer des Telefons auf die Gabel. Mit einem Stift kritzelt sie auf einem der Zettel herum, der vor ihr auf dem Schreibtisch liegt.

Das Wesen erhebt sich von seinem Platz, langsam und behäbig. Der Zettel verschwindet in den weiten Taschen des dunklen Mantels, den es sich kurz darauf überwirft. Durch die große Kapuze kann man das Gesicht beinahe nicht mehr erkennen. Vor allem nicht im Dunkeln oder bei Nacht. Bevor es den Raum verlässt, nimmt es eine Kamera von einem Regal.

Außerhalb des Gebäudes ist es bereits finstere Nacht. Zur Kontrolle wirft die Gestalt einen Blick auf die Armbanduhr, die sie trägt. Es ist schon beinahe soweit. Beinahe zu spät. Beeilung! Sonst verpasst sie den entscheidenden Moment!

In der Ecke der Stadt ist es ruhiger. Nur gelegentliche Gäste des Restaurants sind auf den Gehwegen zu sehen. Parkende und fahrende Autos. Wenige Beobachter. Ein Stück weiter, in einer Seitengasse, ist das Ziel. Dunkel und abgelegen. Stinkend. Neben einem der Müll-Container geht das Wesen in Position, auch wenn der Geruch der vergammelten Lebensmittel und von Urin an der Hauswand kaum auszuhalten ist.

Noch ein Blick auf die Uhr. Der Sekundenzeiger kriecht langsam über das Ziffernblatt. Als es so weit ist, die genaue Uhrzeit erreicht wird, tut das Wesen nicht mehr, als sich zwischen die beiden aufeinander zulaufenden Parteien zu stellen. Sie können es natürlich nicht sehen. Aber fühlen. Die beiden jungen Männer stolpern und zucken zurück. Der ältere Mann verliert beinahe das Gleichgewicht und hält sich haltsuchend an einem der anderen beiden fest.

„Ey, lass mich los!“, brüllt einer davon.

„Was soll der Scheiß?“, pflichtet ihm der zweite bei. „Pass gefälligst auf, wo du hinläufst!“

Bevor der Streit eskaliert, denn das wird er unweigerlich, schleicht sich die Gestalt um die Dreiergruppe herum und macht sich auf den Weg zur nächsten Location. Morgen wird die Polizei an genau dieser Stelle die Leiche eines älteren Mannes in einem der abgelegenen Müllcontainer finden. Zu verpassen, wie das Leben aus ihm schwindet und er kalt und alleine im Dreck zugelassen wird, ist beinahe unerträglich…

Das nächste Ziel ist ein hoher, gläserner Wolkenkratzer. Gerade noch rechtzeitig… Ein gut gekleideter Mann verlässt in diesem Moment das Gebäude. Der Anzug sitzt perfekt. Die Haare lässt zurückgestrichen. Er trägt lederne Aktentasche bei sich. Vor der gläsernen Eingangstüre hält er inne und blickt auf seine Armbanduhr.

Das Wesen weiß ganz genau, worauf er wartet. Es wirft einen Blick auf seine eigene Armbanduhr. Der Sekundenzeiger springt stetig vorwärts. 38. 39. 40. 41. Ohne den Blick zu heben, kickt die Gestalt im Schatten einen schäbigen Mülleimer in Richtung der Straße. Reifen Quietschen. Ein Fahrzeug schlittert über den Asphalt. Am Gehsteig vorbei. Glas splittert.

Für einen Augenblick saugt das Wesen den herrlichen Moment des Aufpralls mit seinem Blick auf. Wie in Zeitlupe trifft der Wagen sein Ziel. Wie vorhergesagt. Wie es geschehen soll. Der Körper wird durch die Luft geschleudert. Der Aktenkoffer landet achtlos auf dem Gehweg.

Dieses Gefühl, diese Schwerelosigkeit des Moments ist für die Gestalt wie die Luft zum Atmen. Wie der Herzschlag, der es am Leben hält. Wie das Blut, das aufgeregt und in gleichmäßigem Rhythmus durch den Körper rauscht. Bevor der Moment zu intensiv wird und es vollends verschlingt, geht es weiter. Der nächste Anrufer wartet. So arbeitet das Wesen die Liste ab. Und das wird es auch am nächsten Tag tun. Und am nächsten. Und am Tag darauf. Wie ein Todesengel. Nur, dass es so einen Blödsinn wie Engel und Teufel oder Himmel und Hölle nicht gibt. Es ist das einzige Geschöpf auf dieser gottverdammten Erde, das den Tod beeinflussen kann. Weil es selbst der Tod ist.