„Nach Monaten der Ungewissheit wurde die Leiche der fünf Monate vermissten Frau nun bei Reinigungsarbeiten im Mirror-Park-See gefunden. Ihre Identität war nur noch durch einen DNA-Test nachzuweisen.“ Cassidy beendet das Vorlesen und wirft einen bedeutsamen Blick in die kleine Runde. Betretenes und erschrockenes Schweigen begegnen ihr.

Eiskalt läuft es Alice den Rücken hinunter, wenn sie daran denkt, wie oft sie hier saßen und Spaß hatten, während die ganze Zeit, keine fünf Meter weiter, im Wasser die Leiche dieser Unschuldigen lag. Sie blickt von ihren Fingern auf, die angestrengt miteinander verknotet sind und schaut über den friedlich vor ihnen liegenden See. Die Sonne glitzert auf der Oberfläche, die Palmen, die umliegenden Häuser und sogar die imposanten Wolkenkratzer spiegeln sich im dunklen Wasser.

„Wusstet ihr, dass es da diese Legende gibt?“, bricht Jacob schließlich das Schweigen.

„Es kann nicht zu allem eine deiner Geschichten geben!“ Elijah wirft nur einen gelangweilten Blick in Richtung des anderen und verdreht dann gespielt auffällig die Augen.

„Doch“, ruft Jacob aufgeregt. „Die gibt es wirklich!“

Er dreht sich auf seinem Platz herum, sodass er die ganze Gruppe im Blick hat. Im Schneidersitz sitzt er vor ihnen, wie der Erzähler, der einer Gruppe Kinder eine aufregende Geschichte auftischen möchte.

„Vor knapp 100 Jahren war eine junge Frau mit ihrem Kind hier unterwegs. Die Sonne schien vom Himmel, es war ein wunderschöner, wolkenloser Sommertag.“ Er gestikuliert wild, um seine Geschichte zu verdeutlichen. Normalerweise liebt sie es, ihm zuzuhören. Weil es sich immer so anfühlt, als ist es seine Bestimmung, zu erzählen. Aber heute fühlt es sich nicht richtig an. Direkt neben dem See, in dem die Leiche gefunden wurde, über eine Legende zu reden, die die Frau vielleicht getötet hatte. Während sie den Blick noch einmal über den See schweifen lässt, läuft es ihr kalt den Rücken hinunter und sie schaudert.

„Sie ging nichts ahnend mit ihrem Sohn spazieren bis plötzlich“, er macht eine dramatische Pause, „der Kinderwagen, in dem der Kleine saß, kippte. Und das Baby fiel heraus und in den dunklen See. Die Mutter sprintete hinterher, stürzte sich ins Wasser, doch keiner der beiden tauchte je wieder auf.“

„So ein Stuss“, brummt Elijah, als Jacob eine kurze Pause einlegt.

„Ich bin noch nicht fertig“ Er legt sich den Zeigefinger über die Lippen und blickt den jungen Mann, der ihn unterbrochen hat, finster an. „Seither sagt man sich, dass die Mutter am Mirror Park herumspukt. Nachts sieht man sie, wie sie weinend am Seeufer steht. Und das Spiegelbild, das die falschen Worte wählt, wird dasselbe Schicksal ereilen.“

„Was für ein Spiegelbild? Und was für falsche Worte?“, mischt sie sich das erste Mal ein.

„Die Worte, die keiner von uns hier sagen sollte“, flüstert er bedeutungsvoll. „Die Worte, die…“

„Ja, ja, schon gut“, unterbricht ihn Elijah. „Was sind denn jetzt die Worte?“

„Mutter, oh Mutter, ich bin hier am See. Mutter, oh Mutter, komm her wo ich steh. Mutter, oh Mutter, folg mir aus den Tiefen heraus. Mutter, oh Mutter, bring mich nach Haus.“ Zum Ende hin ist er immer leiser geworden. Die letzten Worte sind nur ein leises Flüstern, das sie kaum versteht.

„Was?“, Elijah steht von seinem Platz auf und lacht laut los. „Das soll es gewesen sein?“

„Wie bei Bloody Mary oder so nem Mist?“, pflichtet Cassidy ihm bei.

„Ich kenne jemanden, der sie schon gesehen hat!“, verteidigt Jacob seine Geschichte. Alice ist mit den Gedanken noch so tief in die Legende versunken, dass sie kaum mitbekommt, wie die anderen beiden sich über ihn lustig machen. Ihr Blick schweift über den See, als könnte sie mit ihren bloßen Gedanken die angebliche Geister-Frau heraufbeschwören.

Sie stellt sich vor, wie eine junge Dame vor einhundert Jahren mit einem altmodischen Kinderwagen am Seeufer entlang spaziert. Das Wetter ist warm und sonnig. Wolkenloser, blauer Himmel. Sie spricht leise mit dem Baby, das friedlich im Wagen liegt und döst. Plötzlich bleibt eines der Räder an einem großen Stein hängen. Der Wagen kippt in Richtung des Sees. Sie kann ihn nicht halten. Hat nicht die Kraft, den Sturz zu verhindern. Und das Kind fällt in den kalten See.

„So ein bullshit, ehrlich Jacob“, hört sie Elijah sagen, bevor er und Cassidy von ihren Plätzen aufstehen.

„Hey, lass ihn in Ruhe“, verteidigt Alice den Erzähler, ohne darüber nachzudenken. Sie findet nicht, dass seine Geschichte „bullshit“ ist oder eine Horror-Story irgendein Blödsinn, den sich nur jemand ausdenkt.

„Ihr könnt ja zusammen auf die Alte warten“, rufen die beiden noch, bevor sie verschwinden. Alice blickt ihnen einen Moment lang hinterher, bevor sie näher zu Jacob rutscht, der ebenfalls auf den See hinaus sieht.

„Idioten“, murmelt sie leise, ohne ihn anzusehen.

„Sie verstehen gar nichts…“ Jacob seufzt nur, bevor er zögerlich zu ihr hinüberblickt.

„Glaubst du an die Geschichte?“, fragt sie vorsichtig nach.

„Tust du es denn?“ Er lächelt sie von der Seite an und Alice muss wie automatisch ebenfalls lächeln. Es springt einfach auf sie über, wenn sie ihn so locker sieht.

„Ich… weiß nicht so recht.“ Sie ist ehrlich. Es war eine gute Geschichte. Eine, die wirklich so passiert sein könnte. Aber ob es die Frau wirklich gab? Ob sie wirklich aus dem See steigt, wenn man diese besonderen Worte sagt?

„Weißt du was… Warum versuchen wir es nicht?“, schlägt Jacob aufgeregt vor. Sie kann die Begeisterung in seinen Augen glitzern sehen. Das breite Grinsen auf seinen Lippen. Die blonden Locken, die unter seiner Cappi hervorschauen, wippen in der Bewegung, als er aufspringt.

„Bist du dir sicher?“, ruft sie ihm hinterher. Er ist schon voraus, bis zum Ufer gerannt. Sie folgt ihm, ohne zu zögern.

„Na komm, was soll schon passieren?“ Er dreht den Kopf in ihre Richtung und zwinkert ihr bedeutungsvoll zu. „Außer, dass uns der Geist einer hundert Jahre alten, traurigen Frau in den See zieht.“

Sie kniet sich zu ihm ins Gras. Der Boden ist kühl und fühlt sich irgendwie feucht ab, obwohl es seit Wochen nicht geregnet hat. Ihr Blick sucht seinen, und findet ihn auch, wie selbstverständlich. Seine braunen, warmen Augen lächeln sie freundlich von der Seite an.

„Du musst dein Spiegelbild im Wasser betrachten“, beginnt er zu erklären, ohne von ihr wegzusehen. „Schau nicht weg, bis du den Spruch zu Ende gesagt hast. Na los!“

Er lächelt sie an. Ihr Herz macht einen Satz. Dann dreht er den Kopf und blickt auf das flache, tiefschwarze Wasser, vor dem sie knien. Alice tut es ihm gleich. Es ist merkwürdig, sich selbst zu betrachten. Das verzerrte, verschwommene Bild vor sich. Ihre blauen Augen und die kurzen, rötlichen Haare. Der fragende Ausdruck auf ihrem Gesicht, weil sei nicht so recht weiß, was gerade passiert.

„Mutter, oh Mutter“, hört sie Jacob neben sich murmeln. „ich bin hier am See. Mutter, oh Mutter, komm her wo ich steh.

Er formt jedes einzelne Wort bedacht und genau in seinem Mund. Er spricht deutlich, beinahe anbetend zu seinem eigenen Spiegelbild im Wasser. Für einen Moment löst sie den Blick von sich selbst und schaut ihn an. Sein ernstes Gesicht auf der Oberfläche, die geöffneten Lippen, die sich eine kurze Pause von dem beinahe andächtigen Gebet nehmen.

„Mutter, oh Mutter, folg mir aus den Tiefen heraus“ spricht er endlich weiter. „Mutter, oh Mutter, bring mich nach Haus.“

Als er geendet hat, sagt sie die Worte ebenfalls auf. Sie versucht es ihm gleich zu tun und jedes Wort bedächtig zu formen. Als würde sie daran glauben. Sie stellt sich die Frau noch einmal vor, wie sie mit dem Kinderwagen am Ufer entlang spaziert ist. Angestrengt starrt sie auf ihr Spiegelbild, als warte sie darauf, dass dort jeden Moment ein anderes auftauchen würde. Doch es passiert rein gar nichts.

„Es funktioniert nicht“, murmelt sie und sieht hinüber zu Jacob, der ihren Blick traurig erwidert.

„Was für eine Enttäuschung…“, brummt er. Die Lippen fest aufeinandergepresst, erhebt er sich. Sie folgt ihm kurz mit den Augen, als sie eine plötzliche Bewegung im Wasser wahrnimmt. Ruckartig dreht sie den Kopf zu See. Ihr Herzschlag trommelt laut. Ihr Atem geht flach. Aber da ist nur wieder ihr eigenes Spiegelbild, das zurück starrt.

„Wir sollten den anderen nicht verraten, dass es nicht geklappt hat“, sagt sie laut, während sie aufsteht und ihm folgt. Er hat sich einige Meter vom Ufer entfernt und steht betreten auf dem Gehweg.

„Auf keinen Fall“, grinst er. Sie bleibt vor ihm stehen. Jetzt, wo sie allein sind, spürt sie diese merkwürdige Verbindung zwischen ihnen nur noch mehr. Als würde sie von ihm angezogen werden. Zu ihm hingezogen.

„Danke trotzdem, dass du mich verteidigt hast“, sagt er und plötzlich greift er nach ihrer Hand. Wie aus dem Nichts kommt diese zärtliche und unerwartete Berührung. Er sieht auf ihre Finger, die sich sanft miteinander verankern. Dann auf sie und lächelt sanft.

Das vorsichtige Blubbern des Wassers im Hintergrund bemerkt keiner der beiden. An der Wasseroberfläche schlagen sanfte Wellen. Etwas taucht aus dem tiefschwarzen Gewässer auf. Nasse, dunkle Haare, die einmal zu einem festen Zopf zusammengebunden waren. Eine hohe Stirn. Tote Augen. Die Wangenknochen stehen hervor. Wie ein Totenschädel, über den die blasse Haut gespannt ist. Das lange Sommerkleid, klebt ihr am Körper, als sie aus dem Wasser steigt.

„Kein… kein Problem“ stammelt Alice. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Viel zu zerbrechlich und schön ist dieser Moment. Viel zu gut. Er ist viel zu gut. Sein warmer Blick umschließt sie wie eine feste Umarmung. Sie fühlt dieses Kribbeln, dass immer in seiner Nähe aufkommt. Es wandert von ihrem Magen bis hinauf ihn ihre Wangen, die sicherlich rot glühen. Der Blick wandert vorsichtig zwischen seinem weichen Blick und seinen einladenden Lippen hin und her.

Die nackten, feuchten Füße berühren den sandigen Boden am Ufer des Sees. Seit einer langen Weile, war sie nicht mehr zu den Menschen hinaufgestiegen. Das Wasser fließt an ihr herunter und landet in dicken Tropfen auf dem Grund. Ein leises Wimmern verlässt ihren Mund. Ein Schwall brackiges Seewasser folgt dem erstickten Geräusch.

„Alice…“, flüstert Jacob, der ihre Hand fest in seiner hält. Sein Mundwinkel zuckt sachte, als er seine warme Handfläche auf ihre Wange legt. Er beugt sich nach vorne, langsam, vorsichtig. Sie hält den Atem an. Der Geruch nach verdorbenem, aufgedunsenem Fleisch erfüllt die Luft. Rasselnder Atem durchbricht die Stille. Das kreischende Wimmern schwillt zu ohrenbetäubender Lautstärke an. Die Frau hat das Rufen erhört. Sie ist hier, um ihre Kinder zu holen. Sie muss sie nach Hause bringen. In Sicherheit. Ihre eiskalten Hände berühren die warmen Körper und retten sie, in die Tiefen des Sees.