Das Fahrzeug hält ruckartig an. Er weiß, er muss die Ruhe bewahren. Er muss seinen Job machen. Seit der Alarm ausgelöst und sie alle aus dem Schlaf gerissen hat, steht er unter Strom. Er hat schon einige Einsätze mitgemacht. Es ist ja nicht so, als ist es das erste Mal, dass er rausfahren muss. Aber dennoch ist die Aufregung immer noch ein Teil von ihm. Adrenalin, sein pumpender Herzschlag. Und die Gewissheit, sich für die Gesundheit anderer Menschen in Gefahr zu begeben.

Sie steigen aus dem Wagen aus und folgen den Anweisungen, die ihnen gegeben werden. Er kann Rauchgeruch in der Luft wahrnehmen. Um sie herum ist nur stockfinsterer Wald. Wie durch einen dichten Nebel hindurch, versucht er sich zu orientieren. In der näheren Umgebung werden die kahlen Bäume und Sträucher vom rot-blauen Licht der Einsatzwägen beleuchtet. Dahinter folgt nur dunkles Nichts. Als würde die Welt dort aufhören und man von der Kante fallen, wenn man zu weit geht.

Dicke Schneeflocken wirbeln durch die Luft und haben in Sekundenschnelle alles mit einer feinen, weißen Schicht bedeckt. An seiner dicken Schutzkleidung bleibt er kleben, auf den Helmen seiner Kollegen, auf der gesamten Ausrüstung. Die Landschaft ist in eine weiche, weiße Decke eingehüllt. Friedlich und still, hält der Rest der Welt seinen Winterschlaf.

Ein gutes Stück in den Wald hinein werden große, helle Scheinwerfer ausgerichtet. In die Richtung, aus der der Rauch und der helle Feuerschein kommt. Je näher man auf das lodernde Feuer zugeht, desto weniger Schnee ist darum herumzusehen. Er ist von der Hitze geschmolzen. Pfützen und schlammiger Waldboden bleiben zurück. Sogar hier, in sicherem Abstand, blendet ihn die Helligkeit der züngelnden Flammen.

Er beginnt, seine Befehle zu befolgen. Seine Gedanken sind nur bei der Arbeit. Keine eigenen Gefühle mehr, keine persönlichen Probleme oder Sorgen. Nur noch das Team gegen die Flammen. Trotz der anfänglichen Aufregung tut er das, was er in seiner Ausbildung gelernt hat. Schattenhaft erkennt er die Umrisse der Holzhütte, der er immer näherkommt. Durch die zersprungenen Fenster brechen die Feuerzungen nach draußen, küssen die eiskalte Nachtluft.

Er hat Geschichten über den alten Mann gehört, der hier wohnen soll. Viele haben ihn einen seltsamen Spinner genannt, einen komischen Kauz. Jahrelang soll er bereits allein dort leben. Ohne Familie. Ohne Freunde. Ohne irgendwelche Berührungspunkte zur Außenwelt. Lange Zeit habe ihn niemand mehr gesehen oder gesprochen. Manche sind sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt noch am Leben ist. Aber ihn einfach dem sicheren Tod überlassen? Dafür sind sie nicht hergekommen.

Durch die Maske, die er aufhat, kann er seine eigenen Atemzüge ungewöhnlich laut hören. Einatmen. Wie ein Rauschen, ein Zischen. Danach ein dumpfes, blechernes Ausatmen. Er versucht seinen eigenen Rhythmus zu finden, während er sich mit dem Gewicht der Sauerstoffflasche auf seinem Rücken durch den Rauch kämpft, der nun die Holzhütte einhüllt. Wie ein Kokon, der ihn und seinen Kollegen vom Rest der Einsatzkräfte abschirmt. Als wären sie durch ein Portal in eine völlig andere Welt getreten.

Die Holzfassade taucht plötzlich vor Ihnen, im dichten Rauch auf. Sie stehen direkt vor den Brettern. Sie sind verkohlt, voller Ruß, dampfend. An der Wand entlang laufen sie nach links. Durch den Rauch kann er die Rufe seiner Kollegen nur gedämpft hören. Unheimlich, wie weit entfernt sie klingen.

Er erreicht zuerst die verschlossene Eingangstür. Ein winziger, rautenförmiger Fensterrahmen ist genau in der Mitte davon. Durch ihn kann er ins Innere der Behausung blicken. Doch außer den Flammen, die an den Wänden, an den Möbeln und der Decke lecken, ist nichts zu erkennen. Langsam nimmt er den Kopf zurück, um sich zu seinem Kameraden umzudrehen. Er will ihm ein Zeichen geben, damit sie die Tür aufbrechen. Im letzten Moment sieht er im Augenwinkel einen Schatten im Gebäude. Erschrocken dreht er den Kopf wieder nach vorne und sucht mit den Augen panisch nach der Gestalt. Doch sie ist weg.

Sie brechen die Türe nach innen auf. Sein Herz schlägt schnell und aufgeregt. Wenn der alte Mann noch hier ist, dann muss er ihn finden. Ihn retten, aus dem Feuer. Links und rechts empfangen sie die Flammensäulen, wie ein Torbogen. Er schluckt den merkwürdigen Geschmack auf seiner Zunge hinunter. Rauch. Asche. Was er vor sich sieht, ist nur helles, brennendes Leuchten und Rauch. Keine zwei Meter weit, kann er nach vorne blicken. Doch ohne darüber nachzudenken, geht er in die Richtung, in der er den Schatten gesehen hat.

Mit jedem Schritt tastet er sich weiter in den Raum hinein. Zuerst fühlt er mit den Zehenspitzen vor, testet, ob die Bodendielen auch halten. Dann verlagert er langsam sein Gewicht nach vorne. Dabei ist er immer darauf gefasst, dass etwas Unvorhergesehenes passiert und er zurückmuss. Er geht um einen dicken Holzbalken herum, der die durchhängenden Deckenplatten an Ort und Stelle hält. Plötzlich ist der Schatten wieder da. Durch die Flammen hindurch sieht er einen dunklen Umriss. Das Feuer kriecht an ihm empor und verschlingt ihn.

„Hilf mir“, hört er ihn flüstern, ganz nahe an seinem Ohr. „Rette mich!“

Er geht darauf zu. Schnurstraks und vergisst für einen Augenblick seine ganze, vorsichtige Strategie. Bis sein Kollege ihn an der Schulter zurückhält und ihn entgeistert durch die Atemschutzmaske anblickt. In ihr spiegelt sich das Flammenmeer, das sie umgibt. Das energische Kopfschütteln seines Gegenübers lässt ihn wieder klarer denken. Er dreht sich herum, doch der Schatten ist weg.

Zentimeter für Zentimeter arbeitet er sich nach vorne. Zu der Stelle, an der er ihn gesehen hat. Als er näherkommt, hört er wieder dieses Flüstern. So nah, als würde die Gestalt sein Ohr beinahe mit ihren Lippen berühren. Ihm ist, als könnte er den Lufthauch der Worte auf seiner Haut spüren. Das Geräusch wird lauter. Es schwillt zu einem dauerhaften, unangenehmen Geräusch an. Wie ein Raum, der gefüllt ist mit Menschen, die sich lautstark unterhalten. Sein Blick ist starr auf den Platz gerichtet, an dem der Schatten war. Wie durch einen Tunnel hindurch sieht er nur die Stelle. Hört nur das grässliche Flüstern, das jetzt wie weit entfernte Schreie klingt.

So muss es sich in der verdammten Hölle anfühlen. Im Höllenfeuer. Nur die Hitze. Der Rauch, der in den Augen brennt. Schreie der Sünder. Schmerzensschreie. Man ist gefangen, in der Situation. Es gibt keinen Ausweg. Für immer. Und alles um einen herum brennt.

Sie erreichen ein Hindernis. Balken, die von der Decke heruntergestürzt sein müssen. Sie liegen vor Ihnen und versperren den Weg. Dahinter hat er die Gestalt, den Mann stehen sehen. Aber es ist kein Durchkommen. Es wäre zu gefährlich, sich durch die viel zu schmalen Lücken zu quetschen, noch dazu mit der Ausrüstung, die er trägt. Und er kann sich einen schöneren Tod vorstellen, als in diesem Höllenfeuer von einem Holzbalken zerquetscht zu werden…

„H-hilfe…“ Da ist das Murmeln wieder! Er hat gar nicht bemerkt, dass es aufgehört hat. Aber mit einem Mal kommt es wieder zurück. Rechts von Ihnen. Erschrocken dreht er den Kopf in die Richtung und erkennt die Gestalt durch das züngelnde Feuer. Der Schatten ruft nach ihm. Schreit nach ihm. Er kann seine Verzweiflung und Angst fühlen, als wäre es seine eigene. Die schreckliche Hitze, die er ohne den Schutz auch fühlen würde. Der Rauch, der bei jedem Atemzug in den Lungen brennt.

Er spürt seinen Kameraden hinter sich, der ihm langsam folgt. Er muss vorsichtig sein, auch wenn es jetzt schnell gehen muss. Jeder Schritt ist bedacht, den er an den Balken entlang geht, um hinüber zu der schwarzen Couch zu kommen. Er würde wetten, dass sie einmal eine andere Farbe hatte. Durch die Deckenbalken hindurch sieht er die Gestalt, die ebenso schwarz ist. Wie von Ruß bedeckt und Rauch eingehüllt.

„Bitte…“, krächzt die Erscheinung. Seine Worte gehen in ein undeutliches Husten über.

Vor den Balken geht er in die Hocken und wagt es nun doch, eine Hand nach vorne, zwischen ihnen hindurchzustrecken. Er will ihn erreichen. Doch er ist zu weit weg.

„Es wird alles gut!“, schreit er, um den Lärm zu übertönen, der um sie herum herrscht. Vielleicht ist es gelogen. Und vielleicht ist es nur, um die Person vor sich zu beruhigen. Aber er muss es laut aussprechen, um selbst daran glauben zu können.

Der Körper auf dem mitgenommenen Sofa bewegte sich, als wolle er versuchen, ihn ebenfalls zu erreichen. Wie versteinert beobachtet er den Mann… das Lebewesen, falls es denn wirklich noch am Leben war. Die Hand, die sich in seine Richtung streckt, ist nur an der Form als solche zu erkenne. Die Haut darauf ist kohlrabenschwarz, rissig. Verbrannt. Das bloße Fleisch ist durch die tiefen Brandwunden sichtbar.

Das Hemd, dass er getragen haben muss, ist Eins mit seiner Haut geworden. Es ist damit verschmolzen, als wäre er aus Wachs. Sein Gesicht ist eingefallen und dürr. Es gleicht einem Totenschädel. Bis auf die dünnen Hautfetzen, die zurückgeblieben sind. Die Haare, Augenbrauen und Wimpern sind nicht mehr vorhanden. Von der Hitze versengt. Ein Schauder geht durch seinen Körper, als er in die hellbraunen Augen des Mannes sieht. Das Einzige, das lebendig aussieht an ihm. Das Glitzern darin ist schwach. Dominiert von Schmerz. Von Leid. Tod.

Die Kreatur streckt kraftlos die Finger nach ihm.

„Befreie mich!“, schreit die Stimme in sein Ohr.

Er will ihn befreien! Er will sein Leben retten! Er streckt seinen Arm so weit durch den Spalt in den Balken, bis er mit dem Oberkörper daran stößt und es die Flasche auf seinem Rücken zulässt. Nur noch ein winziges Stück! Er kann ihn erreichen! Sein Kamerad funkt Verstärkung an, die die Feuer um sie herum löschen. Sie müssen einen Weg zu ihm finden! Mit einer Hand drückt er den Balken nach oben, der ihn aufhält, um noch ein Stück näher heranzukommen.

Ihre Finger berühren sich. Er kann es spüren, sogar durch die dicken Handschuhe hindurch. Nur eine schwache Berührung. Noch wenige Zentimeter, dann könnte er seine Hand halten.

„Es ist alles gut! Ich werde Ihnen helfen!“, brüllt er gegen den Krach um sich herum an. Er konzentriert sich auf die Gestalt und blendet alles um sich herum aus. Es wird alles gut, sagt er zu sich selbst.

Er rückt die Flasche auf seinem Rücken zurecht, ein Stück nach links. Dadurch kann er noch weiter nach vorne. Endlich liegen ihre Handflächen aneinander. Er will ihm nicht weh tun. Trotzdem schließt er vorsichtig die Finger um die verbrannte Hand. Ganz sachte, um ihn zu halten. Es rumort um sie herum. Die Flammen züngeln. Das Feuer vor ihm lodert auf. Sogar durch den Schutzanzug kann er die Hitze spüren. Sie verbrennt ihn. Sie blendet ihn. Die Kreatur, an die er sich panisch klammert, zerfällt zu Staub. Von Kopf an, zerbröckelt er, in winzige, federleichte Splitter. Die Panik in den Augen des Toten trifft ihn mit all ihrer Gewalt. Er will ihn nach vorne ziehen, aus der Hitze. Doch wie ein Ascheregen zerfällt er in seinen Händen. Weg. Nur noch die heiße Asche wirbelt durch die Luft. Wird vom Wind davongetragen. Als hätte es ihn nie gegeben.