Die Erde unter ihren Händen ist kühl und rau. Ein Steinchen rammt sich, spitz und schmerzhaft, in ihre Handinnenfläche. Panisch dreht sie den Kopf nach hinten, um den Pfad hinunterzusehen, der zurück liegt. Von ihrem Verfolger ist keine Spur zu sehen. Dennoch rappelt sie sich wieder auf. Die schmerzenden Knie vom Sturz auf den harten Boden ignoriert sie dabei.

Vor ihr, auf dem Gipfel des kleinen Hügels, den sie erklimmt, ist ihr Ziel bereits zu erkennen. Mit weißen Paneelen verkleidete Wände leuchten in der Finsternis der Nacht, der kleine Glockenturm ragt gen Sternenhimmel. Von dieser Seite aus sieht man ebenfalls das riesige Buntglasfenster, das die Rückseite des Gebäudes einnimmt. Die Farben wirken im Dunkeln auf sie, wie das schaurige Abbild eines Regenbogens.

Obwohl sie wieder droht zu stolpern, sprintet sie über den kleinen Friedhof, der von schiefen, moosbewachsenen Grabsteinen bewacht wird. Den kleinen Steinweg an der Wand des Gebäudes entlang, bis zur Vorderseite, rennt sie, ohne sich umzudrehen. Sie spürt immer noch seine Anwesenheit, obwohl sie so viel Abstand zwischen sie beide gebracht hat. Sie fühlt seinen fauligen Atem in ihrem Nacken. Sie hört seine säuselnde Stimme in ihrem Ohr. Sie fühlt das Gewicht seiner kalten Hände auf ihren Schultern, die sie zurückhalten wollen.

„Bitte, sei nicht abgeschlossen, bitte… sei nicht abgeschlossen“, stößt sie atemlos aus, während sie sich mit all ihrer Kraft gegen die schwere Doppeltür fallen lässt, die den Haupteingang der Kirche beschreibt. Sie kann hören, wie der dumpfe Schlag im inneren der Kirche widerhallt. Die kühle, eiserne Türklinke, gibt schwerfällig nach und sie lässt beinahe einen Freudenschrei los, als die beiden Hälften nach innen aufschwingen. Vor ihr nur bedrückende Stille. Aneinander gereihte Bänke, die auf das Herzstück, den großen, hölzernen Altar gerichtet sind. Trotz ihrer Angst im Nacken hält sie eine Sekunde inne, in der sie gottesfürchtig die Augen schließt. Ein Gebet wäre wohl vergebene Mühe, dennoch spricht sie ihre Bitte laut aus: „Lass mich stark genug sein, ihn zu töten.“

Doch sie darf keine weitere Zeit verschwenden. Sie dreht sich in einer fließenden Bewegung um und schließt die schwere Tür hinter sich. Außer einem winzigen, eisernen Riegel, den sie in der Mitte der Doppeltür schließen kann, gibt es keine Möglichkeit, die Tür zu blockieren. Sie stürmt, ohne darüber nachzudenken, zu einer der Bänke und zerrt mit all ihrer Kraft daran. Das Holz schleift über den steinernen Boden, kratzt und schabt. Ihre Arme zittern ob dem Kraftaufwand. Sie weiß, dass ihr die Blockade nur wenige Sekunden Zeit verschaffen wird. Aber vielleicht sind es genau diese Augenblicke, die sie am Ende benötigt.

Als die Bank in Position ist, wirbelt sie aufgeregt herum und sprintet auf den hölzernen Altar zu. Sie kann sich nicht mehr genau an die alten Erzählungen ihrer Mutter erinnern. Damals, als kleines Mädchen, waren ihre Gute-Nacht-Geschichten vergessene Rituale und verlorene Legenden gewesen. Wenn sie sich nur die Details gemerkt hätte! Ihr Blick sucht das leere Gebäude ab, während sie sich in ihren frühesten Erinnerungen auf die Suche begibt.

„Weißt du noch, was du heute gelernt hast?“, fragt ihre Mutter und zieht ihr die flauschige Decke bis zum Kinn nach oben. Die Erinnerung ist trüb und verschwommen, dennoch wird sie von ihrer Wärme erfüllt – die Angst verschwindet für diesen winzigen Moment.

„Ich muss mir einen Holzpfahl schnitzen“, hört sie sich selbst als kleines Mädchen antworten.

„Ja“, ihre Mutter lacht für einen Moment leise. „Und was noch?“

„Die… Sonnenstrahlen weisen den Weg“, murmelt das Kind und grinst dabei breit.

„Sehr richtig, du kleine Jägerin.“ Ein liebevoller Kuss auf ihre Stirn, bevor ihre Mutter, ihre Mentorin, aufsteht und mit einem letzten, kurzen Blick über die Schulter das Zimmer verlässt. Die Erinnerung endet. Sie starrt auf die weißen Steinfliesen zu ihren Füßen, noch immer in Gedanken gefangen.

Die Sonnenstrahlen weisen den Weg, hört sie sich selbst immer und immer wieder sagen. Die Sonnenstrahlen…

Als sie ihre Erinnerung, ihr von Kindheit an gelerntes Wissen, endlich mit dem Ort kombiniert, an dem sie sich befindet, stürzt sie in fast schon panischer Euphorie auf den hölzernen Altar zu. Im Schatten des gigantischen Kreuzes, das darüber angebracht wurde, wirkt er beinahe unscheinbar. Dahinter sind goldene, gelbe und orangene Strahlen auf die Steinmauer gemalt. Es muss vom Eingang her so aussehen, als wäre der Altar der Ursprung des Leuchtens. Der Ursprung der „Sonnenstrahlen“.

Die Türen, die auf der Rückseite des Tisches angebracht sind, findet sie unverschlossen vor. Durch vorsichtiges Klopfen auf den Regalbrettern im Inneren kann sie auch den doppelten Boden ausfindig machen. Genau wie ihre Mutter es immer beschrieben hat. Und auch die winzige Bohrung, durch die gerade einmal ihr kleiner Finger passt, ist in einer der Ecken. Langsam hebt sie das Holz an, das knarzend und krachend eine versteckte Luke zum Vorschein bringt.

Unzählige Waffen sind dort fein säuberlich einsortiert worden. Für Unwissende wäre es wahrscheinlich sinnloser Plunder, den jemand hier versteckt hat. Ein alter Holzpflock, ein Kruzifix, Silberkugeln, eine Flasche Wasser. Aber sie sieht darin ihre Rettung.

Sie greift, beinahe ehrfürchtig, nach dem reichlich verzierten Holzpfahl, den unzählige Schnitzereien zieren. Das silberne Kreuz ist an einer schweren Kette befestigt, die sie sich um den Hals legt. Mit der gläsernen Flasche in ihrer linken Hand, gefüllt mit geweihtem Wasser, erhebt sie sich. Der Blick ist in Richtung der Empore an der Rückseite gerichtet. Noch trägt sie einen winzigen Funken Hoffnung in sich. Vielleicht hat er ihre Spur doch verloren? Vielleicht weiß er nicht, dass sie sich hier vor ihm versteckt?

Als sie am Treppenaufgang ankommt, bleibt ihr Herz fast stehen. Ein zweites Mal hört sie das leise Kratzen. Sie hält die Luft an, obwohl ihr Herzschlag jetzt in ihrer Brust hämmert, laut wie Donnerschläge. Den Fuß, den sie schon auf der ersten Stufe hat, nimmt sie wieder herunter. Zu laut. Wenn auch nur eine der Stufen knarzt, verrät sie sich. Sie zwängt sich in den winzigen Zwischenraum, neben einer hölzernen Bank und unter der Treppe, versucht sich zwischen all dem Staub und den Spinnenweben zu verstecken.

Ein ohrenbetäubendes Krachen. Holz bricht. Bänke schaben über den Steinboden. Das Bersten der Tür hallt an der hohen Decke der Kirche wider. Erschrocken kneift sie die Augen zusammen. Ein Stückchen bemaltes Holz schlittert auf sie zu und kommt neben ihrem Schuh zum Liegen. Sie drängt sich dichter an die kühle Steinwand, dichter in die Spinnenweben. Ihr Blick ist starr auf den Eingangsbereich gerichtet. Ein großer, dunkler Schatten, vom Mondlicht geschaffen, schlurft über die Steinfliesen.

„Wo bist du… kleines Vöglein“, knurrt er bedrohlich. Seine kratzige, tiefe Stimme lässt sie erschaudern. Sie umklammert den Holzpfahl so fest mit ihren Fingern, dass ihre Knöchel schmerzen.

„Tschiep, tschiep…“ Sie kann das widerliche Grinsen in seinen Worten hören. „Ich weiß, dass du dich hier versteckst!“

Angestrengt versucht sie seine Schritte zu lokalisieren, ihm in Gedanken durch die Kirche zu folgen. Er muss in Richtung des Altars gegangen sein, als es plötzlich totenstill wird. Kein Geräusch ist mehr zu hören. Ist er doch umgedreht? Lässt er sie mit dem Leben davonkommen? Sie beugt sich langsam nach vorne, um an der Bank vorbeizuspitzen. Nur ein schneller Blick, um sich zu vergewissern. Als sie gerade weit genug ist, um die zerschmetterte Tür und verschobenen Bänke zu erspähen, taucht urplötzlich sein Gesicht vor ihr auf. Der glühende, violette Blick trifft ihren. Speichel tropft von seinen spitzen Fangzähnen, als er den Mund grinsend öffnet.

„Gefunden“, murmelt er.

Kreischend weicht sie zurück. Doch sie stößt an die Mauer hinter sich. Er streckt seinen Arm aus und packt sie an den Haaren, zerrt sie aus der düsteren Ecke heraus. Ihr Kopf schmerzt, als er sie mit Leichtigkeit zum Eingang zerrt. Ihre Hände greifen blind nach ihm, ihre Füße strampeln. Sie windet sich wie ein Fisch an Land der verzweifelt das Wasser sucht.

„Halt still“, knurrt er und wirft sie herum, mit dem Rücken gegen eine der Bänke. Die Luft wird schmerzvoll aus ihren Lungen gepresst und ihr Magen verkrampft. Endlich lässt er ihre Haare los – nur, um seine kräftigen Finger um ihren schlanken Hals zu legen. Er drückt zu. Sie kann kaum atmen. Verzweifelt versucht sie ihre Lungen mit Luft zu füllen.

„Du sollst stillhalten!“, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. „Es schmerzt sonst nur noch mehr.“

„Fick dich!“ krächzt sie. Sie sammelt all ihre verbliebene Kraft. All die Zeit, die sie ihn gesucht und gejagt hat. All die Jahre, die sie gelernt hat. Und dann rettet sie ein gekonnter Tritt in seine Eier.

Er flucht und lässt ihren Hals los. Sie kann sehen, dass es ihn schmerzt, als er sich nach hinten umfallen lässt und die Hände schützend über seinen Schritt legt. Rasselnd atmet sie ein. Ihre Füße platziert sie links und rechts von seinen Hüpften, bevor sie sich mit den Knien auf seinen Brustkorb fallen lässt. Er hustet und versucht sich unter ihr zu bewegen. Sie platziert ruhig die Spitze des Pfahls auf seiner Brust. Das Holz bohrt sich in das Leder seines schwarzen Mantels.

Erschrocken reist er die Augen auf, als ihm bewusstwird, in welcher Lage er sich befindet. Doch es ist schon zu spät. Er hat sich zu sehr in Sicherheit gewogen. Er hat sie unterschätzt. Sie, die Jägerin. „Schmor in der Hölle!“, schreit sie, als sie die Arme hoch über den Kopf erhebt, um sie dann mit aller Kraft hinab sausen zu lassen. Den Pfahl direkt in sein totes Herz.