Der Bass der Techno-Musik dröhnt noch immer aus dem winzigen Club in seinem Rücken heraus. Zwischenzeitlich ist es ihm so vorgekommen, als hätten die Wände, die hohen Stühle an der Bar und selbst der Boden unter seinen Füßen im Takt vibriert. Die vom Alkohol hemmungslos gewordenen Körper sind träge wie Schiffe im Wellengang hin und her geschaukelt. Erst jetzt fällt die schwere Tür hinter ihm ins Schloss und der Song klingt zu einem dumpfen, angenehmen Wummern ab.
Der junge Mann tritt einige Schritte weg von den rauchenden und quatschenden Club-Besuchern, die sich um den Eingang herum tummeln. Die Luft hier draußen ist bei weitem nicht so stickig und feucht vom Schweiß wie im Inneren des Gebäudes. Überall hin, sogar bis auf die Toiletten, ist einem der beißende Geruch von billigem Schnaps und diesen beschissenen Zitronen gefolgt. Wer zur Hölle macht schon Zitrone in seinen Gin?
Es ist weit und breit kein einziges Taxi zu sehen, das ihn von diesem Ort retten könnte. Ein prüfender Blick auf sein Smartphone verrät noch dazu, dass der Empfang in diesem Kaff unterirdisch ist. Aber sicherlich würde er nicht zu den besoffenen Leuten vor dem Eingang gehen und die um Hilfe bitten.
„Du willst mich doch verarschen?“ Mit einem wütenden Blick gen Himmel drängt er sich nach einigen endlosen Minuten des Wartens an die Wand des Clubs, um den Regentropfen auszuweichen, die mit steigender Intensität auf ihn herab prasseln. Die kleinen Grüppchen flüchten nach und nach wieder ins Innere, aber das ist wirklich der letzte Ausweg, den er sieht.
Auf dem Parkplatz gegenüber starten einige Fahrzeuge. Die Scheinwerfer streifen ihn für eine Sekunde, bevor nur mehr die Rücklichter zu sehen sind, bis sie im Dunkeln der Nacht verschwinden. Er bleibt allein zurück. Er und die Pfützen auf dem Asphalt. Als plötzlich eines der Autos vor ihm stehen bleibt und die Fensterscheibe in seiner Richtung herunterlässt, stößt er sich verdutzt von der Fassade ab.
„Hey, willst du auch in die Stadt?“, ruft ihm eine junge Frau vom Beifahrersitz entgegen. Der Fahrer beugt sich ein Stück nach vorne, um an ihr vorbeizusehen und ihn heranzuwinken. Sie sehen recht nett aus. Nicht wie zwei Verrückte, die ihn in den Wald entführen und dort abschlachten würden. Vor solchen Menschen hat ihn seine Mutter immerzu gewarnt. Ohne weiter darüber nachzudenken, verlässt er seinen regengeschützten Platz und öffnet die hintere Tür, um einzusteigen.
„Danke.“ Er lässt sich auf die dunklen Polster der Rücksitzbank fallen. „Ich wohne in Vinewood.“
„Perfekt.“ Sie dreht sich im Sitz zu ihm herum und grinst breit. „Da müssen wir auch hin. Ich bin übrigens Valery. Und unserer Fahrer hier ist Mike.“
„Jordan“, stellt er sich zögerlich vor.
„Warst du auf der Party?“, fragt Valery ihn und löst ihren Gurt, um sich zwischen den beiden vorderen Sitzen hindurch in Richtung der Rückbank zu strecken. Sie greift nach einer Jacke, die neben ihm liegt und er spürt eine flüchtige, kühle Berührung an seinem Handrücken. Ein kurzes, elektrisches Kribbeln, das von ihrer Haut auf seine überspringt, dem er aber keine große Bedeutung zuschiebt.
„Ja“, bestätigt Jordan, als Mike den Gang einlegt und mit dem Wagen wieder auf die Straße steuert. „Wäre aber wohl besser gewesen, wenn ich zu Hause geblieben wär.“
„Wir haben nur Freunde abgesetzt“, plaudert sie, während sie in ihre Jacke schlüpft und sich danach wieder anschnallt. „Aber die Partys hier sind nur gut, wenn man richtig voll ist.“
„Merk ich mir fürs nächste Mal…“ Jetzt, wo sie die kleine Stadt im Norden der Insel verlassen und die Straße sie durch den finsteren Wald führt, weit weg von der Musik und den vielen Menschen, kommt Jordans Körper endlich wieder zur Ruhe. Er lässt den Kopf nach hinten gegen die Kopfstütze sinken und sein Blick schweift zum Fenster. Die Regentropfen malen ein verzweigtes Muster auf die Scheibe, das ihn an die Krone eines riesigen Baumes erinnert. Der Bewegung der Wassertropfen zu folgen, ist beinahe einschläfernd.
Tatsächlich kann er seine Augen kaum mehr aufhalten, egal wie sehr er sich anstrengt. Sein Körper wird von einer schweren Müdigkeit ergriffen. Die beiden werden ihn schon wecken, wenn sie in der Stadt angekommen sind, denkt er sich. Oder sie zerren ihn in Vinewood einfach aus dem Auto. Beides ist ihm recht, solange er in der Nähe seiner Wohnung ist und weit weg von der bescheuerten Party. Er lässt zu, dass seine Gedanken abschweifen und das gleichmäßige Motorengeräusch ihn in den Schlaf wiegt.
Bumm Ba-Bumm. Bumm Ba-Bumm. Ein gleichmäßiges, rhythmisches Klopfen. Ein Hämmern, das ihm durch den ganzen Körper geht. Wie der treibende Beat eines Songs. Schwerfällig öffnet er die Augen und versucht zu ergründen, wo er ist. Es ist dunkel und kalt um ihn herum. Fackelschein. Sein Rücken lehnt an einer hölzernen Wand. Die Oberfläche des Holzes kratzt bei jeder winzigen Bewegung über seine Haut. Er sitzt auf der blanken Erde.
Sein Sichtfeld ist verschwommen, als würde er versuchen durch dichten Nebel hindurch zu blicken. Als er den Kopf nach rechts drehen will, um zu sehen, was sich um ihn herum befindet, will sein Körper erst nicht gehorchen. Seine Beine, seine Arme, alles fühlt sich kraftlos und bleischwer an. Sein Kopf schwirrt, als würde ein Schwarm Wespen darin hausen. Und wiederkehrend wird jeder Gedanke von diesem verdammten Hämmern unterbrochen.
Zwei Hände ergreifen ihn plötzlich an den Oberarmen und zerren ihn auf seine Füße. Er kann sich nicht kontrollieren. Bevor er wieder zu Boden fällt, fassen sie ihn unter den Achseln und halten ihn in der Luft. Erst jetzt bemerkt er, dass er nackt ist. Die kühle Nachtluft streift seine Haut und er fröstelt. Panisch versucht er, seinen Kopf oben zu halten, um seine Umgebung zu erkennen. Aber es ist zu schwer. Die Muskeln in seinem Nacken und seinen Schultern zittern vor Anstrengung, vor Anspannung. Trotzdem kann er nur den Boden zu seinen Füßen erkennen. Den staubigen Dreck, über den er geschleift wird und der von flackerndem, gelbem Licht erleuchtet ist.
Es ist verwirrend, wie still es ist. Außer seinem eigenen Atem und dem pochenden Herzschlag in seiner Brust, kann er nur das Wummern im Hintergrund hören. Keine Schritte. Keine Stimmen. Kein knisterndes Feuer. Kein Rauschen, dass der Wind in den Bäumen verursacht. Nichts.
Der Boden unter ihm wird jetzt steinig. Kleine Felsen säumen den Pfad. Schließlich wechselt die Erde vollends und unter ihm ist es nur noch felsig. Plötzlich sind die Hände verschwunden, die ihn gehalten haben. Er fällt, ohne dass er etwas dagegen tun kann. Aber nicht vornüber, er fällt mit dem Rücken zuerst. Den Aufprall auf dem Felsen spürt er nicht. Erst, als die Luft durch den Aufschlag aus seinen Lungen gepresst wird, ist es, als würde er zum Leben erwachen.
Die Geräusche seiner Umgebung prasseln auf ihn ein, wie der Regen es vorhin noch getan hat. Das rhythmische Klopfen ist noch da und mittlerweile scheint es, als hätte sich sein Herzschlag diesem Geräusch angepasst. Kraftvolle Trommelschläge, die die Stille durchbrechen. Flüstern um ihn herum. Brennendes Holz, das knistert. Blätter, die im Wind rascheln. Über ihm der endlose Sternenhimmel – so friedlich in diesem Chaos.
Ob es nun sein eigener Verdienst oder die Schwerkraft ist, weiß er nicht recht, doch sein Kopf fällt endlich zur Seite. Er kann durch den Nebel Fackeln erkennen, die im Kreis aufgestellt sind. Menschen, die dicht gedrängt dahinterstehen. Große Holzhütten vor einem riesigen Berg. Bevor er noch mehr sehen kann, wir sein Blick verdeckt von einer einzigen Person. Sie tritt in sein Sichtfeld. Nicht mehr als ein weites, graues Kleid verdeckt ihren Körper. Ihr Gesicht kann er nicht erkennen, aber die grauen, langen Haare, die ihr über die Schultern fallen. Ihr Hände sind erhoben und halten eine hölzerne Schale vor ihrer Brust.
Eine zweite Person tritt an ihn heran. Was im nächsten Augenblick passieren wird, ist ihm in der Sekunde klar, in der er sieht, was der Mann in seinen Armen hält. Egal wie sehr er seinen Körper anstrengt, egal wie sehr er versucht, die Augen zu schließen, er schafft es nicht. Tatenlos muss er zusehen, wie der Mann ein Messer zückt und dem Tier in seinen Händen vor aller Augen den Kopf abtrennt. Einfach so, als wäre es nichts Besonderes. Er spürt sogar die feinen Blutstropfen, die sein Gesicht sprenkeln. Jetzt ist auch klar, wofür die Holzschale ist.
Die Frau stellt die Schale, die rot glänzend von all dem Blut ist, neben ihm auf dem Felsen ab. Dann bedeckt sie ihre Hände damit, bis sie dunkelrot leuchten. Er fühlt ihre Hände auf sich. Die ekelhafte Wärme der Flüssigkeit, die sie auf seiner nackten Haut verteilt. Sie scheint Muster auf seiner Brust zu zeichnen. Auf seinen Armen, seinen Beinen, auf seinem Becken. Jeder Windhauch ist auf seiner feuchten Haut zu spüren.
Zum Rhythmus der Trommel kommen Gesänge hinzu, die er noch nie in seinem Leben gehört hat. Schreie. Stimmen, die sich erheben und jubeln, als ihn die Frau mit Blut beschmiert. Zuletzt widmet sie sich seinem Gesicht. Er kann ihr endlich in die Augen blicken. In die strahlenden blauen Augen, die er unter anderen Umständen als freundlich bezeichnet hätte. Sanfte Fältchen bilden sich, als sie ihn anlächelt. Ihr fällt eine graue Haarsträhne ins Gesicht, die sie mit einer schnellen Bewegung fortwischt. Dabei bleibt eine Spur des Blutes an ihrer Wange zurück. Fasziniert beobachtet er ihr konzentriertes Gesicht, wie sie die verwirrenden Muster auf seinem Hals und seiner Stirn zeichnet. Sein eigenes Gesicht spiegelt sich in ihren Pupillen, verzerrt und vom Fackelschein beleuchtet.
Zufrieden mit dem Ergebnis, lehnt sie sich zurück und betrachtet ihn noch einmal ausgiebig. Er kann nicht verstehen, was sie sagt, als sie sich zu ihren Zuschauern umdreht. Es muss etwas Positives gewesen sein, denn die Menge jubelt und schreit aufgeregt. Aber ob es auch für Jordan ein Grund zur Freude ist?
Der Frau, die diese Art von Ritual leitet, wird ein Messer gereicht. Dasselbe Messer, mit dem gerade noch das unschuldige Tier getötet wurde. Noch glänzt das Blut auf der silbernen Klinge. Blut, das nun überall auf seinem Körper verteilt ist.
„Keine Angst“, flüstert eine zarte Stimme in sein Ohr. „Gleich bist du erlöst.“
Erlöst? Wovon erlöst? Kann er gehen? Er würde alles dafür geben, um auf die Scheiß Party zurückkehren zu können. Panik steigt in ihm hoch. Merkwürdigerweise zum ersten Mal in dieser absurden Situation, hat er Angst. Richtige Scheiß Angst. Er will fliehen und von diesem verdammten Felsen herunter. Doch sein Körper gehorcht ihm nicht. Er will aufspringen, losrennen und sich nicht umdrehen, bis er auf der Straße ist. Aber kein einziges seiner Gliedmaßen will sich auch nur einen Millimeter bewegen.
„Gleich bist du bei unserem Herrn“, ergänzt sie noch, als sie sich wieder erhebt. Sie dreht seinen Kopf so, dass er wieder auf den Sternenhimmel blicken kann. Ihre Hand mit dem Messer kommt für einen Moment in sein Sichtfeld. Dann spürt er die feuchte Klinge an seinem Hals. Sein Atem geht stoßweise. Seine Muskeln krampfen, weil er weiterhin versucht, sich zu befreien, obwohl es Ausweglos scheint. Seine Augen sind weit aufgerissen, brennen, weil er es nicht wagt zu blinzeln. Und dann lächelt sie ein letztes Mal und er spürt … Nichts. Er spürt nichts. Nur endlose Schwärze um ihm herum. Und im nächsten Atemzug, als er seine Augen öffnet, ist da wieder der Himmel über ihm. Er ist heller als gerade eben noch. Es zeichnet sich bereits die rötlich-orange Färbung des Sonnenaufgangs darauf ab. Erschrocken setzt er sich auf und endlich tut sein Körper das, was er soll. Er sitzt auf einem Felsen. Um ihn herum keine Menschenseele. Keine Fackeln. Kein Blut. Nur er. Nackt, in der Stille des Morgens.
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